“MAI 2014: EINE RICHTUNGSENTSCHEIDUNG FÜR DIE EU” INTERVIEW MIT SKA KELLER MEP

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Ska Keller, seit 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments für die Fraktion der Grünen/EFA, ist Mitglied im Handelsausschuss und im Innenausschuss. Sie ist Spitzenkandidatin der europäischen Grünen für das Amt des Präsidenten der EU-Kommission und Mitglied in der Türkeidelegation des Europäischen Parlaments. Sie sprach mit UNITEE über die Zukunft der EU und die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei.

Sie sind Spitzenkandidatin der europäischen Grünen bei der Europawahl und damit zugleich Anwärterin auf das Amt des Präsidenten der EU-Kommission. Die Wahlbeteiligung bei den Europawahlen sinkt kontinuierlich, sie lag 2009 nur bei 43%.  Europaskeptische Partien haben in einer Vielzahl der Mitgliedsstaaten immer größeren Zulauf. Wie können wir den Kommunikationsprozess im Hinblick auf die Bedeutung der EU effektiver gestalten, um Wähler zu mobilisieren? Wie können wir dem wachsenden Einfluss von Europaskeptikern entgegenwirken? 

Ich finde es ganz wichtig, dass die Parteien, also wir auch, im Wahlkampf deutlich machen, worum es geht bei der Europawahl. Und es geht um sehr viel, es geht um eine Richtungsentscheidung der Europäischen Union. Wollen wir ein Europa der Banken oder der Bürger? Wollen wir ein abgeschottetes Europa oder ein offenes Europa? Wollen wir ein demokratisches Europa oder ein Europa, wo die Staats- und Regierungschefs hinter verschlossenen Türen entscheiden? Und es geht auch um die Frage: Wie viele Rechtsextreme wollen wir eigentlich noch in dieses Parlament reinlassen? Das finde ich wichtig: klarzumachen, worum es geht.

Ich finde es aber auch wichtig, klarzustellen, wo die Unterschiede sind zu anderen Parteien: Wir sollten nicht nur sagen, „Europa ist super – stimmt für uns“, das ist ja kein Programm, sondern wir wollen ja Europa verändern. Es gibt viel, was schief läuft auf der europäischen Ebene, und das müssen wir klarstellen, aber auch sagen, wo unsere grünen Ideen und Antworten dafür liegen, und wie die uns unterscheiden von den anderen Parteien. Weil natürlich ganz wichtig für eine Demokratie ist, dass man zwischen unterschiedlichen Parteien wählen kann, je nachdem, welche politische Meinung man hat, und das ist eben wichtig, auch da die Unterschiede klarzumachen.

Die Europawahl im Mai 2014 gibt den BürgerInnen die Möglichkeit, die zukünftige Richtung Europas mitzugestalten. Was denken Sie persönlich ist der richtige Weg für die EU, mehr oder weniger Europa, und warum?

Für mich ist wichtig in Europa, dass wir genau schauen, welche Entscheidung wo getroffen werden muss. Da geht es nicht pauschal um mehr oder weniger, sondern es geht darum, dass wir die Entscheidung so nah wie möglich an den Menschen treffen – aber eben genau auf der Ebene, wo es Sinn macht. Es macht zum Beispiel keinen Sinn, auf der europäischen Ebene zu entscheiden, wo der Fahrradweg im Dorf angelegt werden soll. Aber es macht auch keinen Sinn, im Dorf zu entscheiden, wie wir Klimaschutz europäisch gestalten, weil das eine grenzüberschreitende Aufgabe ist. Daher müssen wir immer genau schauen, wo es Sinn macht, etwas zu entscheiden.

Das kann sich auch ändern mit der Zeit, weil ich zum Beispiel glaube, dass wir ein sozialeres Europa entwickeln müssen, ein Europa, das auch auf soziale Belange schaut, da wir eben viele Menschen haben, die Grenzen überschreiten – das ist also eine Folge auch von Europa. Das kann sich also ändern, diese Entscheidung, wo man welche Kompetenzen ansiedeln muss. Aber man muss es immer von Fall zu Fall entscheiden. Ich glaube, es wäre schräg zu sagen, pauschal Alles oder Nichts.

Was sind Ihrer Meinung nach die Themen, die in den kommenden EU Wahlen von großem Interesse für die BürgerInnen sein werden? Welche Antworten haben die europäischen Grünen darauf?

Letztendlich will ich auch zuhören, was die Menschen in Europa sagen, was sie bewegt. Ich will also nicht pauschal sagen, „der Bürger sagt so, oder der Bürger sagt so“ – das ist mir sehr wichtig, dass wir da ein offenes Ohr haben, und nicht einfach herumgehen und sagen, „so ist es“. Was ich immer viel mitbekomme, ist, dass viele Menschen sich wünschen, dass die Europäische Union mehr für ihre Menschenrechte tut, aber auch mehr für ihre sozialen Rechte. Also immer wieder kommt die Frage „warum macht die EU nicht mehr für den Mindestlohn?“ Da müssen wir sagen, „das ist eine nationale Aufgabe“. Aber ich kriege schon mit, dass viele Leute das Gefühl haben, die Europäische Union muss sich mehr um ihre sozialen Rechte kümmern und sie mehr persönlich unterstützen, und das finde ich einen wichtigen Hinweis.

Sie sind Mitglied in der Türkeidelegation des Europäischen Parlaments. Wir haben einige Besorgnis erregende Entwicklungen in der Türkei gesehen, vor allem im Hinblick auf die Gewaltenteilung und die Meinungsfreiheit. Wie wirkt sich dies Ihrer Meinung nach auf die Beziehungen zwischen der EU und der Türkei aus? Wie sehen Sie die Zukunft der Beitrittsverhandlungen der Türkei?

Als wir die Debatte zum Beitrittsbericht der Türkei hatten, konnte man sehen, dass auch Menschen, die eigentlich für den Beitritt sind, sagen, dass wir die Verhandlungen aussetzen müssen, was ich persönlich nicht so effektiv finde. Letztendlich finden ja gerade kaum Beitrittsverhandlungen statt, wir haben keine wirklichen ehrlichen Beitrittsverhandlungen. Deswegen ist es auch so schwierig, darüber Druck aufzubauen.

Aber wenn man ordentliche Verhandlungen hätte, könnte man sagen: „Wir müssen überlegen, die auszusetzen“ und das wäre wirklich ein starkes Signal. Aber Verhandlungen auszusetzen, die es eigentlich gar nicht richtig gibt, ist nicht so ein starkes Signal.

Und das finde ich schade, dass die EU sich da so die Möglichkeit selbst genommen hat, Einfluss auf den Reformprozess in der Türkei zu nehmen. Weil es ganz klar ist, dass die Türkei, wenn sie beitreten will, die Kopenhagener Kriterien erfüllen muss, dazu gehören die Unabhängigkeit der Justiz, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit…

Aber wenn wir diesen Beitrittsprozess nicht klar unterstützen, dann gibt es  auch wenig Levrage, es gibt wenig Hebel, die wir da ansetzen können. Und das fällt uns hier auf die Füße, wie wir bei Gezi gesehen haben, bei den Korruptionsskandalen, bei der Unabhängigkeit der Justiz.

Und was denken Sie ist der nächste Schritt nach der Abstimmung heute im Parlament? Wie wird sich das weiterentwickeln?

Ich finde es wichtig, dass die Kommission, als eine Institution, die auch immer für richtige Beitrittsverhandlungen war, da einen starken Stand hat und dass wir auch als Parlament uns klar positionieren. Das gilt auch für unseren Dialog mit türkischen Abgeordneten, weil wir ein gemischter parlamentarischer Ausschuss mit türkischen und europäischen Abgeordneten sind. Wir müssen ganz klar sagen, dass es für uns wichtig ist, dass die Unabhängigkeit der Justiz gewahrt ist, dass die Menschenrechte gewahrt sind, dass die Vorfälle am Gezi Park aufgeklärt werden, und dass das für uns die wichtigen Themen sind, und nicht unbedingt Wirtschaft.

Da UNITEE UnternehmerInnen mit Migrationshintergrund repräsentiert, haben wir besonderes Interesse daran, wie Sie die Rolle von zivilgesellschaftlichen Organisationen wie UNITEE einschätzen. Sind solche Organisationen wichtig, um noch vorhandene Vorurteile und Vorbehalte gegenüber Mitbürgern mit Migrationshintergrund zu ändern?

Ich finde, Zivilgesellschaft ist immer ein sehr wichtiger Akteur. Es gibt natürlich Unterscheide: ein Umweltverband ist nicht dasselbe wie Unternehmerverband. Ein Unternehmerverband, glaube ich, hat nochmal ganz eigene Ressourcen und Möglichkeiten und einfacheren Zugang zu Entscheidungsträgern als eine lokale Bürgerinitiative, die sich gegen Kohlekraftwerke, zum Beispiel, engagiert. Es ist schon wichtig, da zu schauen, mit wem man es zu tun hat.

Aber auf jeden Fall ist es sehr wichtig, dass Menschen die Möglichkeit haben, Entscheidungen zu beeinflussen, mitzureden. Das gilt natürlich auch für organisierte Zivilgesellschaft. Und gerade bei der Frage Migration – wo die staatlichen Akteure, Regierungen, oft ein negatives Bild aufbauen – ist es wichtig, dass man versucht, das auf der anderen Ebene dann umzudrehen, weil es leider sehr schade ist, dass die staatlichen Akteure da oft so versagen.


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